Cherem
Ein Cherem oder Bann wird in der Bibel das erste mal im Zusammenhang mit Amalek genannt (2. Mosche 17). Die Forderung G-ttes ist radikal: Amalek und sein Volk sollen vollständig ausgelöscht werden. Das führt immer wieder zu Missverständnissen, da man davon ausgeht, der G-tt Israels sei ein Rachegott.
Dazu sollte man sich allerdings erst einmal den Zusammenhang ansehen und davon ausgehen, dass die Worte der Bibel nicht eins zu eins in die Realität übertragen werden können. Sie bedürfen für das Verständnis in der jeweils aktuellen Zeit auch einer aktuellen Lesart.
Amalek war der Enkel Esaws und somit ein Großneffe Jaakows (1. Mosche 36,12). Esaw hatte Jaakow "für ein Linsengericht" (1. Mosche 25, 34) sein Erstgeburtsrecht verkauft und Jaakow hatte später vom Vater Jitzhak den väterlichen Segen mit Hilfe seiner Mutter Rivka erschlichen (1. Mosche 27). Dass das in der Folge nicht zu freundschaftlichen Gefühlen zwischen den Familien Jaakows und Esaws führte, kann man sich gut vorstellen. Die Nachkommen Esaws, also auch Amalek und sein Volk, verinnerlichten ihren Hass auf die Nachkommen Jaakows, die Israeliten, so stark, dass sie nur noch deren Vernichtung im Sinn hatten.
In 2. Mosche 17, 8 ff lesen wir dann auch, wie Amalek die Israeliten angreift, als sie aus Ägypten ausziehen. Der Angriff findet völlig unprovoziert und hinterrücks statt. Dabei vergehen sich die Amalekiter besonders an den Schwachen (5. Mosche 25, 17-18), sie zeigen sich hinterhältig und feige und G-tt erteilt schließlich den Befehl, das Andenken Amaleks auszulöschen (5. Mosche 25, 19).
Aber König Schaul, der erste König Israels, führte diesen Befehl nicht vollständig aus und opferte statt dessen von der Beute, die das Volk bei den Amalekitern gemacht hatte. Das kostet ihn die Königskrone (Schemuel 15, 16-29). Die Folgen sehen wir in der Megillah Esther: Haman, ein Nachfahre des Amalekiterkönigs Agag, hetzt Achaschwerosch auf, die persischen Juden zu vernichten.
Was soll aber jetzt der Befehl G-ttes, die Amalekiter unter Bann zu stellen, für uns im ganz normalen täglichen Leben bedeuten? Heißt es für uns, die Vernichtung des Volkes Amalek in ganz physischer Art und Weise? Oder ist es vielmehr ein Bild für uns, die Feigheit und Verschlagenheit in uns selbst zu bekämpfen?
Jeder von uns trägt auch ein Stückchen Amalek in sich. Den Bann, der über das Volk Amalek gesprochen ist, verstehe ich auch als einen Bann des bösen Triebes in uns, eine Aufforderung, Nächstenliebe zu üben und die Mitzwoth zu erfüllen und nicht dem bösen Trieb nachzugeben.
Aber noch mal ein Blick auf den "äußeren Amalek": Das Volk Amalek als historische Erscheinung existiert seit Sanherib (2. Chronik 32; Jeschijahu 36 ff; Jesajah 10), dem assyrischen König, dessen Belagerung Judahs zur Vermischung der Völker führte, nicht mehr. Rabbi Jehoschua sagt (Mischnah, Jadajim IV, 4): "Längst zog Sanherib, der König von Assur, herauf und mischte alle Völker, denn es heißt [in Jesajah, 10,13]: Da entfernte ich [Sanherib] die Grenzen der Völker, und ihre Vorräte plünderte ich, und wie ein Recke stürzte ich, die da thronten'." Also kann das Gebot auch kein Völkermorden bedeuten. Aber es gibt, seit es das Volk Israel gibt auch "ideologische Amalekiter", Menschen, die den Judenhass verinnerlicht haben. Deshalb heißt es "Gedenke was dir Amalek antat, als ihr auszogt aus Ägypten, als er über deinen Weg kam und die Schwachen rücklings überfiel, ... du sollst dies Andenken auslöschen und es dennoch nicht vergessen". (5. Mosche 25, 17-19).
Was soll das heißen? Das Andenken auslöschen und trotzdem wach halten? Wie soll das gehen?
Es bedeutet m. E., dass das Volk Israel sich stets der Gefahren durch die "Amalekiter der jeweiligen Generation" im Gedenken an die Geschichte bewusst sein muss, aber es soll sich nicht wie gelähmt der Situation ergeben, sondern sich stets an die Aufgaben erinnern, die es als Volk G-ttes hat. Es soll sich wehren und standhaft bleiben, damit es seinen Glauben nicht verrät. Das ist etwas anderes, als der Auftrag einer physischen Vernichtung eines Volkes oder einer Gruppe Menschen.
Heute gibt es den Cherem im Judentum nur noch als einen sozialen Ausschluss aus der Gemeinschaft der Juden. Er wird ausgesprochen, wenn ein Jude - also jemand innerhalb der Gemeinschaft - einen Schaden für das Judentum herbeigeführt hat. Je nach der Größe des Schadens kann der Cherem unterschiedlich stark sein. Er kann von einem Ausschluss aus der religiösen Gemeinschaft bis zu einem kompletten Ausschluss aus der jüdischen Gesellschaft gehen. Heute allerdings ist dies nurmehr ein theoretisches Konstrukt, da Juden nicht mehr in Ghettos leben und somit nicht mehr existenziell auf die Gemeinschaft angewiesen sind. Früher hatte der Cherem vor allem eine Bedeutung, wenn es darum ging, Denunzianten auszuschließen und existenzielle Gefahren von der Gemeinschaft abzuwenden.
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